36 qm Glück - Schwule in Kuba

Veröffentlicht auf von Kata

08.05.2012

36 Quadratmeter Glück

Von Musall, Bettina

Zwei schwule Männer in einem Land, das von Armut und Misstrauen geprägt ist: die Geschichte einer Liebe auf Kuba.

Gegenüber dem Hotel Telégrafo, Ecke Parque Central und Calle Neptuno, buhlen die Fahrer von kanariengelben, halbkugelförmigen "Cocotaxis", Pferdedroschken und Fahrradrikschas brüllend um Touristen. Der Asphalt glänzt nach kurzen tropischen Regengüssen. Dann dampfen die Straßen Havannas rund um den Prachtplatz in der Mittagssonne.

Die Haustür ist nur angelehnt, "die schließt schon lange nicht mehr", sagt Lester lächelnd. Vorbei an schäbigem Kinderspielzeug steigt er über eine speckige Betontreppe in den ersten Stock, wo von einem langen Flur die Apartmenttüren abgehen.

Lester schließt auf, ein Schritt, und er steht im Wohnzimmer. Zwei kleine Sofas mit Spitzendeckchen, ein rosa Lampenschirm, ein segnender Jesus im Goldrahmen, gleich neben dem Fernseher, der wie alles hier, was nicht unbedingt auf dem Boden stehen muss, an die Wand geschraubt ist. Eine Zwergenküche, ein Mini-Duschbad, im Durchgang zur Schlafkammer ein Tisch mit zwei Stühlen. Es duftet nach Putzmittel und dezentem Aftershave.

36 Quadratmeter Glück. "Das gehört uns", sagt Lester, und der Stolz strahlt aus seinen Augen. Mit "uns" sind außer ihm sein Lebensgefährte Charly, und der gemeinsame Schoßhund Lia gemeint.

Lester, 36, ist Arzt, Charly, 33, Krankenpfleger. Sie leben seit zwölf Jahren zusammen. Zwei schwule Männer in einer katholisch-sozialistischen Macho-Gesellschaft. Lester sagt, er habe seiner Mutter nie gesagt, dass er schwul sei. Als er vor vier Jahren im Krankenhaus lag, erlebte sie, dass Charly Tag und Nacht bei seinem Freund am Krankenbett wachte. "Da hat sie verstanden." Vielleicht würde die Mutter inzwischen sogar gern von ihrem Sohn mehr über sein Leben erfahren. "Aber ich kann es ihr einfach nicht sagen", Lester streicht sich über die Haare, "vielleicht irgendwann."

Charly klärte seine Eltern auf, als er 15 war: "Ich habe euch etwas zu sagen. Ich bin schwul. Ich frage nicht um Erlaubnis, ich informiere euch bloß." Um seinen konservativen Vater zu provozieren, lief der Junge ab und an in Frauenkleidern herum. Heute fühlt sich das homosexuelle Paar, umgeben von Mitbewohnern, Nachbarn, Arbeitskollegen und Freunden, sicher und freundlich aufgehoben. Noch vor 25 Jahren, da sind sich die beiden einig, wäre so ein Zusammenleben nicht möglich gewesen.

Liebe in Bedrängnis. Wie kann das große Gefühl, wie können Vertrauen und Zusammengehörigkeit entstehen und überleben in einer Gesellschaft, in der alle Kraft gebraucht wird, um den Alltag zu meistern? In der jeder jeden überwacht? In der Misstrauen das Miteinander untergräbt? In einem Klima, in dem karibische Lebenslust, in dem die Sinnlichkeit und Leidenschaft der Menschen bedroht sind von den Normen einer geschlossenen Gesellschaft wie von den Gesetzen einer Militärdiktatur.

Es war der 31. Juli 2000, die beiden Männer wissen es noch genau, als sie sich auf einer Party begegneten. Lester: "Zuerst sah ich sein Gesicht, er sah so - sorry - so sauber aus, das hat mir sehr gefallen." Charly: "Ich hab zuerst seine Intelligenz wahrgenommen. Und dann die schönen, gepflegten Haare." Sie unterhielten sich. Beim Abschied küsste Charly den Älteren ganz nah an den Mund. "Ups", dachte Lester. In den folgenden Tagen telefonierten sie stundenlang. "Ich musste tagsüber an ihn denken", sagt Lester. Er macht eine kleine Pause. "Und nachts." Aber er hielt sich zurück. Charly hatte "einen Boyfriend", er sollte selbst herausfinden, was er will. "Unser Umgang miteinander", sagt Lester, "war von Anfang an respektvoll."

Zur nächsten Verabredung erschien Charly nicht. Lester macht sich Sorgen, aber nicht wegen des Boyfriends. Sorgen aus Eifersucht sind Luxussorgen. Es musste "etwas Ernstes geschehen sein". "Meine Großmutter starb", sagt Charly. Erst Tage später gingen sie wieder miteinander aus. Kurz darauf zog Charly bei Lester ein.

Das sagt sich so, zog bei ihm ein. Zwei junge Leute in Havanna, damals 21 und 24 Jahre alt. Abgesehen davon, dass Homosexuelle in Kuba im Jahr 2000 zwar nicht mehr verfolgt, aber noch immer diskriminiert wurden, können allenfalls Familien in Kuba eine Wohnung finden. Charly lebte, wie alle Ledigen, bei seiner Familie. Lester war der Mann im Glück. Er hütete die Wohnung seines Onkels, der im Ausland arbeitete. "Das war die schönste Zeit unseres Lebens", sagt er.

Sie lebten und liebten. Nebenbei versorgte der junge Arzt eine kranke, alte Frau, die in der Nachbarwohnung ohne Strom, ohne Kühlschrank, ohne Toilette vegetierte. Neun Monate. Dann kam Lesters Onkel wieder. Das Liebespaar musste Abschied nehmen, Charly zog zurück zu seiner Mutter. "Das war die schlimmste Zeit unseres Lebens."

Als auch Lester ausziehen sollte, geriet die alte Nachbarin in Panik. Der junge Mann blieb über Nacht bei ihr, dann fragte sie ihn: "Wo ist Charly?" und bot den beiden an, bei ihr zu wohnen.

Zu dritt in zwei winzigen Zimmern. Die beiden Männer schliefen im Etagenbett hinter einem Vorhang. Die kranke Frau weigerte sich, zu duschen. Die Wohnung konnten ihre Mitbewohner nur heimlich saubermachen, wenn sie schlief. Manchmal war der Gestank unerträglich. Aber sie hatten keine Wahl. Und irgendwie mochten sie die Alte auch. Beim Essen schränkten sie sich ein, sonst hätte es für die Kranke nicht gereicht. Elf Jahre ging das so, dann starb sie im 88. Lebensjahr. Und hinterließ ihren beiden Pflegern die Wohnung.

Nun sitzen sie auf dem Sofa mit Spitzendeckchen und streicheln ihren Hund. Für die kleine klapprige Klimaanlage hat Lester, wenn er von der Arbeit kam, Fleischbällchen gebraten und im Haus verkauft. Der Erlös ist in Euro und Cent nicht auszudrücken. Es hat Jahre gedauert, bis genug in der Sparbüchse war.

Die Wohnung ist das gemeinsame Projekt. Fast besessen arbeiten sie daran, ihre Puppenstube sauber und schön zu halten. Lia, der Hund, nimmt die Stelle eines Kindes ein. Die Familien von Lester und Charly haben sich stillschweigend an das schwule Paar gewöhnt. Von Zeit zu Zeit essen alle zusammen. Das Verhältnis zu Freunden ist ein bisschen schwierig geworden, "wenn es dir nur etwas besser geht als den meisten hier, sind die anderen neidisch", sagt Lester.

Was sie zusammenhält? Der Ältere sieht seinen Partner mit einem seiner langen, ernsten Blicke an. "Das ist eine Frage des Gefühls. Er ist ein schöner und wundervoller Mensch." Charly: "Wir haben die Wohnung, wir haben den Platz, der uns eine Beziehung ermöglicht. Und in all meinen Träumen hoffe ich, dass Lester bleibt. Ich kann mir ein Leben ohne ihn nicht vorstellen."

Treue? "Gehört zur Liebe", sagt Charly. "Liebe schließt Treue ein", sagt Lester. Das sei auch mit seiner Mutter so, selbst wenn das eine andere Form der Liebe sei. Sicher, es gebe überall hübsche Männer. Aber: "Ich habe mein Haus, meinen Hund, meinen Freund. Was könnte ich einem anderen Mann noch bieten?"

Manchmal streiten sie. "Wie alle, die zusammenleben", sagt Lester. Der stille Mann kann laute Töne nicht vertragen. "Da reagiert mein Körper." Also sucht er immer den Kompromiss. "Lester will es allen recht machen", sagt Charly, "ich neige dazu, anderen die Meinung zu sagen." Trotz unterschiedlicher Temperamente würden sie gern heiraten und gemeinsam Kinder aufziehen, aber daran ist in Kuba noch nicht zu denken.

Also träumen sie davon zu reisen. Im eigenen Land. Und in anderen Ländern. "Weniger Aggressionen, weniger Egoismus" wünscht sich Lester, "und dass die Leute einander mehr helfen." Charly hätte gern "ein Haus, wo er Pflanzen und Tiere halten könnte, Fische in einem Bassin, alles nicht groß, eben etwas, um das man sich kümmern kann".

Wenn er noch mal auf die Welt käme wäre Lester "lieber heterosexuell, dann könnte ich Charly in aller Öffentlichkeit umarmen und küssen". Aber nun habe Gott die Dinge eben so entschieden. "Jetzt ist dies mein Leben und das ist auch okay", sagt der junge Mann und legt seinem Lebensgefährten den Arm um die Schultern.

SPIEGEL WISSEN 2/2012
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